Script Voisin
oder „Das unsichtbare Berlin des Mister Lo“

 

Installation in der Galerie Koch und Kesslau, Berlin im Rahmen des Ausstellungsprojekts «Time, Space and Architecture» zum UIA Architektur Weltkongress 2002, in Zusammenarbeit mit Tine Steen.

 

Dreidimensionale Buchstaben eines Filmscripts folgen der Topografie des Galerieraumes. Dies ist der bildhafte Hintergrund für eine theoretische und, vor allem auch ironische Aufarbeitung zum Thema Idealismus und Architektur. Nicht zuletzt verweist der Titel auf Le Corbusiers „Plan Voisin“, der radikalen Umgestaltung der Pariser Innenstadt.

 

Die vier Protagonisten des Scripts – Kurs, Lack, Billy und Lo  stehen in aller Widersprüchlichkeit stellvertretend für unterschiedliche – pragmatische, ideale und analoge – Entwurfsstrategien und Betrachtungsmodelle zur aktuellen städtischen Entwicklung. Im Idealfall führt das skizzierte Szenario über die jeweilige Zeit ihrer eigenen Entstehung hinaus zu einer komplementären Ergänzung und Absorption der scheinbar grundsätzlich verschiedenen Handlungsweisen,Gedanken und Interessen. Unter anderem wurden den Protagonisten Worte von Karl Friedrich Schinkel, Rem Koolhaas, Oswalt Matthias Ungers, Heinrich Heine, Claude Levi Strauss und Le Corbusier in den Mund gelegt.

Auskleidung des Innenraumes

3-D Typographie mit Polyurethan-Hartschaum,
Sperrholz und Vollholz

 

1-IN/T, Kaufhaus Adam, Rohbau, Leipzigerstr./ Friedrichstr., 4.Stock
LACK blickt wartend hinab auf die Straße -
Voice over auf Szene: Ruppin. Bei einem empfindsamen Kind von sechs Jahren mußte das schreckliche Feuer und der Tod des Vaters einen unauslöschlichen Eindruck hinterlassen. Einen ebenso nachhaltigen Eindruck mußte danach auch das Erlebnis des raschen Wiederaufbaus bedeuten. (Junge Frau nähert sich dem Gebäude, LACK winkt ihr zu, wendet sich ab.)
Der Wiederaufbau brachte einen völligen Wandel der stadträumlichen Umgebung mit sich, aus einer gewachsenen, noch halb mittelalterlichen Stadt wurde nun eine schachbrettartig angelegte, einheitlich bebaute Stadt.

 

2-Au/T, (Archivaufnahme) Sprengung Newtown Runcorn, England
Sprengung, Staubwolke lichtet sich nur sehr langsam – Voice over Sprecher (sachlicher Tonfall): … ein Prophet in der Wüste, der in diesem “ungeheuren Durcheinander” wie ein Messias empfangen wurde. Sein Masterplan sieht vor, einen “economy ring” zu bilden und Gewerbeparks zu errichten. Strenge Zeilenordnung im Nordosten und lockere Randbebauung im Südwesten sollen, ergänzt um ein Kongreß- und Bildungscenter, die unter Denkmalschutz stehende Mitte gleichsam unter Spannung setzen sowie mit Durchgängen und Verkehrswegen beleben. Weitere Bausteine sind: eine Design school, Auftragsforschung mit Spin-off und Start-ups, ein Metaforum und ein Weltforum des Designs mit Besucherzentrum. – Insgesamt ein schwieriger Kompromiß zwischen der Lebendigkeit der Moderne und der Ruhe der Geschichte.

 

3-In/T : Flugzeuginneres, Fensterplatz
C/U auf KURS Gesicht vor dem Fenster.
Interview. Blick nach draußen, Anflug auf Tegel/ Birds Eye: Marzahn, Hellersdorf, Wedding. – KURS (mit Blick auf die Stadt): Die traditionelle Stadt strebt nach Ausgeglichenheit, Harmonie und Homogenität. Berlin beruht dagegen auf dem größtmöglichen Unterschied zwischen den Teilen – komplementär und konkurrierend zugleich. (Blick in Kamera) Was zählt, ist nicht das methodische Schaffen eines Ideals, sondern das opportunistische Ausbeuten von Ausrutschern, Zufällen und Unvollkommenheiten. (Pause 3 Sek.) 
Für einen großen Teil der Menschheit ist es heute ganz normal, ohne Geschichte zu leben.

 

4-Au/N : Küche Chinarestaurant, Kantstraße Medium Wide Shot, LO im Hinterausgang, Zigarettenpause, Haare schulterlang grau, trägt verwaschenes T-shirt mit Slogan aus chinesischer Studentenbewegung, C/U auf LO`s Gesicht (Anschnitt) – LO (halblaut): Es gibt kaum eine Stadt, deren architektonische Substanz so sehr aus Schichten unrealisierter Planungen besteht wie Berlin: Die Architektur, die nicht gebaut wurde, fügt sich zu einer unsichtbaren Stadt zusammen, die weit größer und kulturell reicher ist als die sichtbare es je war.

 

5- IN/T : Kaufhaus Adam, Rohbau
Medium Wide Shot : 4. Stock, LACK geht vor BILLY eine Treppe hinauf. BILLY trägt helles Kleid und dunkle, kurzgeschnittene Haare. Fassadenteile. – LACK (im Gehen):Der ganz ideale Styl der Griechen, der mit vielen neuen Residuen in Widerspruch steht, muß also freilich vermittelnd modificiert werden im Sinne einer getheilten Welt, die
in der Vergangenheit und in der Gegenwart zugleich lebe. BILLY (kühl, mustert Fassadenprofil): Es gibt keine Reinheit der Zeichnung, die nicht eine neue Komposition all dieser Dinge wäre… Jede Beliebigkeit der Erfindung ist verschwunden, Form und Funktion sind im Gegenstand festgelegt, der Gegenstand – ob Teil der Landschaft oder der Stadt – ist ein Beziehungsgeflecht zwischen den Dingen.

 

6-AU/N-Küche, Chinarestaurant, Kantstraße C/U auf LO’s Gesicht (Anschnitt) – LO`s Mund geschlossen, seine Stimme aus dem Off: Berlin ist gar keine Stadt, sondern Berlin gibt bloß den Ort dazu her, wo sich eine Menge Menschen, und zwar darunter viele Menschen von Geist versammeln, denen der Ort ganz gleichgültig ist: diese bilden das geistige Berlin.

 

7-IN/T: Rohbau Kaufhaus Adam Medium Wide Shot /6. Stock, LACK und BILLY durchqueren die Etage auf dem Weg vom Treppenloch zur Außenwand, provisorische Bretterabsperrungen C/U LACK`s Gesicht (aufgeregt) – LACK: Sie sind objektiv. Das ist die Sensation. Übereinstimmung in objektiven Ideen. Diese objektiven Ideen
werden für alle, in allen Ländern eine Wahrheit sein. Wir dürfen nicht kneifen. Es ist Zeit – die Welt brennt. Es bedarf der Bestärkungen. Wir sind die Techniker der modernen Architektur. Im Namen der Ordnungsmäßigkeit und der heiligen Sache …

 

8- IN/T: Flugzeuginneres
C/U auf KURS Gesicht vor dem Fenster
Blickt nach draußen, Flugzeug dreht, Pankow , dann Landung in Tegel, Landebahnen und Flughafengebäude. – KURS blickt nach draußen und spricht: Während die historische Stadt als eine geographische Anhäufung von Überschuß zu sehen ist, ist die Metropole die physische Infrastruktur eines ökonomischen Modells, welches eher auf der Zirkulation von Überschuß beruht.
 KURS dreht den Kopf, blickt direkt in die Kamera, selbstbewußt, keine Gesichtsregung.

 

9-AU/N: Hinterhof Chinarestaurant. Medium Wide Shot-LO trägt Müllbeutel. LO (murmelt): Der einzige wesentliche Unterschied zwischen der menschlichen Geschichte und Natur-Geschichte liegt darin, daß jene niemals von vorne beginnen kann… LO schiebt Deckel von Müllkontainer beiseite. Die Verbindung mit der Vergangenheit zu brechen ist eine Herabsetzung des Menschen auf den Stand
eines Orang-Utans.

 

10-IN/T: Rohbau Kaufhaus Adam
Medium Wide Shot- 4. Stock,Treppenöffnung , LACK hält Leiter, BILLY auf Leiter,
 LACK Die Ingenieure konstruieren die Werkzeuge ihrer Zeit… Die Ingenieure sind gesund und männlich, aktiv und nützlich,
moralisch und fröhlich. Auch die Ingenieure betreiben Architektur, denn sie üben die aus den Naturgesetzen abgeleitete Berechnung. Billy (hält inne,lacht laut): Ein Gehirn, das sich heutzutage mit der Erfindung eines Ornaments beschäftigt ist minderwertig!

 

11 – IN/T: Staatsratsgebäude
Medium Wide Shot /C/U; M1…schließt seine Rede bei der internationalen Pressekonferenz:
M1 : Statt mühsamer Entwurfsprozesse und tiefschürfender Gedanken wird die architektonische und städtebauliche Produktion ein rein mechanischer, ohne Nachdenken reproduzierbarer, unendlicher Prozess der Neukombination von Bildern.

 

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Skulpturale Erscheinung und dynamische Höhenentwicklung der einzelnen Typen

Die Strukturen folgen den räumlichen Eigenheiten des Ausstellungsraumes und stellen diese heraus